von Wolf Oschlies
Auszug aus seinem Buch „Makedonien 2001-2004 Kriegstagebuch aus einem friedlichen Land“, Xenomoi Verlag 2004
„Wie alle osteuropäischen Sprachen hat auch das Makedonische das deutsche Wort Gastarbeiter übernommen: gastarbajter (гастарбајтер). Darüber hinaus kennt das Makedonische etwa ein Dutzend heimische synonyme für diejenigen, der seine Arbeitskraft notfalls auch im Ausland einsetzt: pečalbar, argat etc. Es musste diese Ausdrücke geben, weil es ab Ende des 18. Jahrhunderts das zu benennende Phänomen gab: die in der Nähe oder Ferne führende Arbeitsmigration. Sie folgte zumeist den Wegen, die zuvor makedonische Handwerker und Kaufleute durch das ganze Osmanische Imperium und darüber hinaus, etwa bis nach Süddeutschland, zurückgelegt hatten.
Erst das 20. Jahrhundert brachte die drei Ereignisse, die zur Entstehung einer zahlenstarken makedonischen Diaspora führten. Das erste war im August 1913 der Friedensvertrag von Bukarest, der zwar die Balkankriege beendete, Makedonien aber unter Serbien (Vardar-Makedonien), Bulgarien (Pirin-Makedonien) und Griechenland (Ägäisches Makedonien) aufteilte. Vardar-Makedonien wurde 1944 die jugoslawische Teilrepublik Makedonien, 1991 die souveräne Republik Makedonien. Die in Bulgarien und Griechenland verbliebene makedonische Diaspora ist in den jüngsten Zählungen der Skopjer Emigrationsagentur nicht erwähnt.
Das zweite Ereignis war der griechische Bürgerkrieg in den späten 40 Jahren, bei dem die entrechteten ägäischen Makedonen sich für die kommunistischen Aufständischen engagiert hatten und folglich auch deren Schicksal der Niederlage teilen mussten. Ein Exodus von rund 50.000 Makedonen aus Griechenland setzte ein, der sich durch eine exakt geplante Verschickung von zusätzlich 25.000 Kindern über ganz Osteuropa verteilte: Bis Ende 1948 nahmen Jugoslawien 14.000, die Tschechoslowakei 2.500, Rumänien 3.300 und Ungarn 3.050 Kinder auf, dazu kamen noch größere Gruppen nach Albanien. Bis zur Gegenwart gibt es z.B. an der polnischen Ostseeküste, im südlichen Mähren und anderswo in Osteuropa ganze „Kolonien“ von einstmals ägäischen Makedonen.
Das dritte Ereignis war schließlich Jugoslawiens Grenzöffnung in den frühen 60 Jahren, die zur Abwanderung von makedonischen „gastarbajteri“ nach Westeuropa führte. Gleichzeitig verhärtete sich in Osteuropa die Minderheitenpolitik, wie aus Statistischen Jahrbüchern abzulesen war: Es gab in Bulgarien, Griechenland und anderen Ländern plötzlich keine Makedonen mehr oder nur noch sehr wenige. In Tito-Jugoslawien ging damals das böse Wort vom „statistischen Genozid“ um, das rein sachlich berechtigt erschien: In Bulgarien waren 1946 252.908 Makedonen gezählt worden, 1956 noch 178.862, 1965 nur noch 8.750. ein besonderes Kuriosum ergab sich über Jahrzehnte hinweg in Albanien: Offiziell lebten dort 1989 4.697 Makedonen, die aber – als einzige in Osteuropa – erstaunlich weitgefasste Minderheitenrechte im Schulwesen genossen. Die makedonischen Schulbücher aus Albanien, in einem südmakedonischen Dialekt verfasst, waren lange Zeit ein „Geheimtipp“ der internationalen Makedonistik, da sie aus dem hermetisch abgeriegelten Land schwer herauszubekommen waren. Trotzdem herrschte kein Zweifel daran, dass in Albanien mindestens 130.000 Makedonen lebten. In Griechenland gab es offiziell überhaupt keine Makedonen, doch stritten Experten nur noch darum, ob es 250.000 oder 350.000 waren. Die entsprechenden Bücher und Studien, die damals in Makedonien erschienen waren schon in ihrer Art sehr „unbalkanisch“: Ohne jede Larmoyanz und bar aller nationalistischer Leidenschaft wurden einfach Fakten gesammelt und Indizien geprüft, dass in balkanischen Nachbarländern Makedonen lebten.
Heimat und Diaspora
Bereits vor 60 Jahren beobachtete der deutsche Ethnograph G.A. Küppers eine Eigenheit von Auslands-Makedonen, die sich bis zur Gegenwart erhalten hat: Diese Männer waren im ganzen Mittelmeerraum beschäftigt, „viele haben sich in Ägypten niedergelassen“, aber zum Heiraten kamen sie alljährlich am 12. Juli in ihre makedonischen Dörfern zurück. Daraus resultierten z. B. die international berühmten „Massenhochzeiten von Galičnik“, einem Dorf im westmakedonischen Bergland, die jedes Jahr Berichterstatter aus aller Welt anzogen. An der Sache selber, der Verbundenheit mit der Heimat, hat sich bis zur Gegenwart nichts geändert, weswegen es bei manchen makedonischen Städten wahre „Geisterorte“ gibt: Prächtige Häuser, von Gastarbeitern erbaut und nur für kurze Urlaubswochen bewohnt. Die übrige Zeit des Jahres gehen sie ihrer Arbeit im Ausland nach und sind dabei in die fremde Umgebung gut integriert. Daneben gibt es makedonische „Kultur- und Kunstvereine“, Kirchengemeinden, Sportvereine, Schriftstellergruppen etc. In Deutschland klappt das besonders gut, und bei der Bonner Rundfunkstation DEUTSCHE WELLE arbeitet seit rund 30 Jahren die älteste makedonische Redaktion der Welt, die mit dem Makedonischen Radio in Skopje einen regen Austausch von Mitarbeitern pflegt.
Von Makedonien aus kümmerte sich lange Jahre die „Matica na iselenicite“ (Heimatbund der Aussiedler) um die Auslands-Makedonen, bis sie 1999 zu einem eigenen Ministerium aufgewertet wurde. Ähnlich verfährt die makedonische Orthodoxe Kirche (MPC), die sich aufmerksam um ihre überseeische Diözesen in den USA, Kanada, Australien und Westeuropa kümmert. In Skopje ist das gut dotierte „Institut für Nationalgeschichte“ bemüht, die historische Vorgeschichte aller von Makedonen besiedelten Balkan-Regionen zu dokumentieren. Und in Makedonien selber finden alljährlich zahlreiche „sredbi“ (Treffen) statt, die denen Makedonen aus Bulgarien, Griechenland, Albanien etc. den Kontakt zur Heimat erneuern.
Ein Feld, auf dem Makedonien seit jeher besondere Aktivitäten entwickelt, ist die Bildung. Für Kinder von Gastarbeitern gibt es muttersprachlichen Zusatzunterricht. Die Universität „Kyrill und Method“ in Skopje organisiert makedonische Lektorate im Ausland, und zu DDR-Zeiten war die Universität Halle geradezu ein „pool“ der osteuropäischen Makedonistik. Diese Institution (die in gemindertem Umfang noch besteht) war damals so gefestigt, dass nicht einmal das „sozialistische Bruderland“ Bulgarien, das ansonsten alle Aktivitäten Makedoniens nach Kräften konterkarierte, dagegen Einspruch erhob. Makedonisten aus der DDR (und dem übrigen Osteuropa) waren auch stets auf den „Internationalen Seminaren für makedonische Sprache, Literatur und Kultur“ präsent, die seit 1968 ununterbrochen im August im südmakedonischen Ohrid veranstaltet werden.
Schwierigkeiten bekam Makedonien früh mit Griechenland, dass 1986 Gesetz erließ, nach dem keine Diplome mehr anerkannt wurden, die „in international nicht anerkannten Sprachen“ abgelegt worden waren. Alle Welt fragte sich damals, was wohl eine „international anerkannte Sprache“ sein könne und wer jemals eine Sprache „anerkannt“ habe. Aber darum ging es nicht, vielmehr lag hier das erste griechische Störmanöver gegen makedonische Sprache, Kultur und Identität vor (gerichtet gegen ägäische Makedonen, die in Skopje studierten), dem nach der eigenstaatlichen Emanzipation Makedoniens (1991) noch viele folgen sollten.
Seit dem Ende des Kommunismus kann sich Makedonien auch mehr um Makedonen in den Nachbarländern kümmern. Das betrifft vor allem Albanien, wo die dortigen Makedonen zwar keine Behinderungen mehr erfahren, aber auch keine Hilfe vom Staat. Darum haben sie 1991 ihren Nationalverband „Prespa“ gegründet, der enge Beziehungen zu Ministerien und Institutionen in Makedonien anknüpfte und Bildungshilfen für die Makedonen in Albanien schafft.
Wünsche für die Zukunft
Seit kurzem läuft in Makedonien die Aktion „Kako do pasoš“ (wie man zum Pass kommt), mit der sich Emigrations-Agentur und Innenministerium (MVR) an die Auslands-Makedonen wenden: Sie „und ihre Nachkommen“ sollen künftig ganz leicht zu makedonischem Pass und makedonischer Staatsbürgerschaft gelangen. Dafür ist nur nötig, dass man einen Antrag stellt, einen kurzen Lebenslauf sowie eine Kopie von Ausweis oder Pass und einen Auszug aus dem Familienstammbuch (maticna kniga na rodenite i venčanite) anfügt.
Diese erleichterten Passmodalitäten sind nur Teil eines umfassenderen Programms, das Agenturdirektor Ivanov so beschrieb:
„In der Agentur unternimmt man Anstrengungen, zur exakten Zahl der Aussiedler zu gelangen, und darum appelliert man an sie, sich bei einer Zählung, die die Republik Makedonien organisieren wird, als Makedonen zu deklarieren und selber daran interessiert zu sein, als solche registriert zu werden, und dass sie zudem die makedonische Staatsbürgerschaft beantragen, damit sie als makedonische Staatsbürger ausgewiesen sind, oder dass sie bei Volkszählungen in ihren Heimatländern ihre Herkunft, Muttersprache angeben, auch wenn sie diese nicht sprechen, beispielsweise die Kinder unserer Einwanderer in Australien“.
Der Sinn des ganzen Unternehmens bleibt dennoch unerfindlich. Ökonomische Gründe können nur partiell eine Rolle spielen, denn Auslands-Makedonen tragen ohnehin durch ständige Überweisungen in die Heimat zu deren finanziellen Standing bei. Und makedonische Reiche, die als Investoren in Frage kämen, sind nicht sonderlich dicht gesät. Andere Gründe sind zu vermuten: Man will Integrationsbemühungen, die Kroatien, Serbien etc. bei ihren Diasporen fördern, etwas entgegensetzen. Man möchte Auslands-Makedonen vor einer Vereinnahmung durch benachbarte religiöse „Missionen“ bewahren. Man versucht, die vor Ort unterentwickelten Binnenkohäsion der Makedonen dadurch zu fördern, dass man Auslands-Makedonen als eine solidarische Gruppe erscheinen lässt. Und man hofft darauf, die Makedonen in aller Welt enger an das Land zu binden und sie als Fürsprecher, ja informelle „Botschafter“ für das (immer wieder bedrohte) Land einzusetzen. Denkbar und naheliegend ist schließlich noch das Motiv, im ausländischen „Vorfeld“ eine ordnende Sichtung zu installieren. Am 24. Juni 2002 hatte Innenminister Ljube Boškovski in Deutschland einen „Vertrag zur Rücksendung von Personen mit illegalem Aufenthalt“ unterzeichnet, und seither befürchten makedonische Experten, unter ihnen die früheren Innenminister Ljubomir Fričkovski, dass Deutschland eine Vielzahl kosovarischer Albaner, die über den Flughafen Skopje ausgereist sind, nach Makedonien ausweisen werde. Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts habe es eine heimliche Einwanderung von über 250.000 Kosovo-Albanern in Makedonien gegeben, und die Kosovo-Krise von 1998/99 habe weitere Albaner ins Land gebracht. Die meisten von Ihnen verfügen über keine ordnungsgemäßen Personaldokumente, nicht wenige von ihnen sind in Deutschland straffällig geworden bzw. mit Asylanträgen gescheitert.
Was auch immer die Motive sein mögen: Makedonen im Ausland sind ein wunderliches Völkchen. Natürlich haben sie feste Wurzeln daheim, bauen Häuser, fahren jedes Jahr für einige Heimatwochen nach Hause etc. Aber ein Begriff von einem gesamten Vaterland Makedonien scheint nicht bei allen zu bestehen. Die informelle Regionalisierung des Landes ist doch stark ausgeprägt, besonders in der Diaspora: Wer aus Kumanovo stammt, gilt bei Landsleuten aus Bitola als halber „Serbe“, und so etwas behindert natürlich alle Kontakte. Ende 2001 versuchte ich, die Vorsitzenden makedonischer Vereinigungen in Deutschland, die alle zu einem Treffen in Bonn versammelt waren, dazu anzuregen, dass sie und ihre Makedonen bei jeder Gelegenheit, wenn von Makedonien die Rede wäre, telefonisch oder per Brief aktiv würden. Aus langer Erfahrung weiß ich, welche „Meister“ z.B. Albaner, Kroaten u.a. darin sind: Sage vor Kamera oder Mikrophon etwas über Kroatien oder das Kosovo, und du wirst mit Reaktionen zugeschüttet. Etwas in dieser Art wünschte ich mir von Makedonen. Die Klub-Chefs hörten mir aufmerksam und zustimmend zu, aber der Effekt meiner „Rede an mein Volk“ war gleich Null.“
Makedonien 2001-2004. Kriegstagebuch aus einem friedlichen Land, Wolf Oschlies
326 Seiten, Taschenbuch (kartoniert). ISBN: 3-936532-40-0 Preis: 16,80 €
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