Offener Brief an Bundeskanzler Scholz zu den Beitrittsverhandlungen Makedoniens mit der Europäischen Union

Sehr geehrter Bundeskanzler Herr Scholz,

gerne möchten wir Sie über die aktuelle Situation im Zusammenhang mit dem weiteren Beitrittsprozess der Republik Makedonien[1] informieren und Ihnen hierbei unsere Sichtweise darlegen. Es freut uns, dass Sie erst kürzlich Premierminister Kovačevski in Berlin empfangen und ihm Ihre unmissverständliche Unterstützung Makedoniens auf dem Weg in die Europäische Union zugesichert haben.

Als Interessensverband der makedonischen Gemeinschaft in Deutschland begrüßen wir Ihre Unterstützung und möchten Ihnen an dieser Stelle dafür herzlich danken. Nichtsdestotrotz bereiten uns die bilateralen Beziehungen zwischen Makedonien und Bulgarien zurzeit große Sorgen. Bulgarien hatte im Jahr 2020 im Europäischen Rat gemeinsam mit allen weiteren Mitgliedsstaaten der Europäischen Union dem Beginn der Beitrittsverhandlungen für Makedonien zugestimmt, ohne zunächst weitere Bedingungen zu stellen. Nach wenigen Monaten änderte sich jedoch die bulgarische Position drastisch, nachdem im bulgarischen Parlament über eine Rahmenposition in Bezug auf Makedonien abgestimmt wurde, die die Grundlage für die bulgarischen Positionen im Rahmen der Beitrittsverhandlungen mit Makedonien darstellen soll.

Diese Rahmenposition bezieht sich u.a. auf den Schutz der bulgarischen Gemeinschaft in Makedonien, beinhaltet aber auch Positionen wie beispielsweise, dass die makedonische Sprache ein bulgarischer Dialekt sei, die Makedonier*innen bis 1944 Bulgarinnen und Bulgaren gewesen seien usw.


[1] Die Republik Makedonien änderte ihren Verfassungsnamen laut des Prespa-Vertrags in „Republik Nord-Makedonien“. Da unsere Organisation keine staatliche Einrichtung darstellt, können wir laut Prespa-Vertrag weiterhin die Namensbezeichnung „Makedonien“ verwenden und machen in unserem Schreiben Gebrauch davon.

Diese nationalistischen und revisionistischen Positionen haben über verschiedene Verweise im Beitrittsverhandlungsrahmen sowie aufgrund der Unterzeichnung eines bilateralen Protokolls zwischen den Außenministern beider Staaten leider indirekt Eingang gefunden in den Verhandlungsrahmen für Makedonien. Als erster Schritt verlangt der Verhandlungsrahmen die Ergänzung der bulgarischen Gemeinschaft in die Präambel der makedonischen Verfassung. Die makedonische Regierung hat mit Annahme des Verhandlungsrahmens diesen Schritt zugesichert, ohne jedoch mit der Opposition über diesen Sachverhalt gesprochen zu haben und eine qualifizierte Mehrheit im Parlament sicherzustellen, ohne die eine entsprechende Verfassungsänderung nicht möglich ist.

Die entsprechende Plenarsitzung des makedonischen Parlaments, die am 18.08.2023 über die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung abstimmen sollte, wurde am gleichen Tag unterbrochen; eine Fortsetzung dieser Sitzung ist erst dann vorgesehen, sobald eine qualifizierte Mehrheit sichergestellt ist.

Die Opposition weigert sich, diesen Verfassungsänderungen zuzustimmen. Nach unserer Einschätzung hat dies v.a. folgende Gründe:

  • Die Mehrheit der makedonischen Bürger*innen lehnen die Verfassungsänderungen ab.
  • Der makedonischen Minderheit in Bulgarien wird das Recht auf Registrierung eigener Vereine regelmäßig von bulgarischen Gerichten verweigert, obwohl der Gerichtshof für Menschenrechte mittlerweile in schon mindestens 14 Beschlüssen Bulgarien angewiesen hat, entsprechende Registrierungen von makedonischen Organisationen in Bulgarien zu ermöglichen.
  • Berichte des Europarates beschreiben die Diskriminierung der makedonischen Minderheit in Bulgarien, die sich insbesondere darin widerspiegelt, dass die Registrierung von makedonischen Vereinen regelmäßig von den bulgarischen Gerichten verhindert wird mit Bezug auf gesetzliche Regelungen Bulgariens, die den „Schutz der Einheit der Nation“ betreffen. Dahingegend gibt es bisher keinerlei Berichte des Europarats, die die Diskriminierung der bulgarischen Gemeinschaft in Makedonien beschreiben.
  • Die bulgarische Gemeinschaft stellte historisch zum Zeitpunkt der Gründung der Republik Makedonien nach dem Zweiten Weltkrieg kein konstitutives Volk dar. Die Änderung der Präambel der Verfassung würde in historische Sachverhalte eingreifen, die so nicht korrekt wären. Im Gegenteil: Die bulgarische Okkupation hatte zum Ziel, Makedonien an Bulgarien anzuschließen. Die Gründung eines makedonischen Staates war keinesfalls vorgesehen, sie sollte unter allen Umständen verhindert werden.
  • Die Präambel der Verfassung erwähnt nicht alle Gemeinschaften, die in der Republik Makedonien leben, namentlich, sondern sie werden unter dem Begriff „Sonstige“ zusammengefasst; dies schränkt jedoch in keiner Weise den Schutz der Minderheitenrechte aller weiteren, nicht in der Präambel der Verfassung erwähnten Gemeinschaften dar. Neben der bulgarischen Gemeinschaft wird beispielsweise die kroatische, slowenische, jüdische, ägyptische Gemeinschaft nicht explizit in der Präambel der Verfassung erwähnt. Die Minderheitenrechte werden durch entsprechende Artikel der Verfassung des Landes garantiert, geschützt und mit konkreten Maßnahmen umgesetzt.

Darüber hinaus müssen wir deutlich darauf hinweisen, dass die bulgarische Staatsführung sowie weite Teil der bulgarischen akademischen Elite zutiefst davon überzeugt sind, dass Makedonien historisch, ethnologisch, kulturell und sprachlich zu Bulgarien gehört. Dies äußert sich in offiziellen Verlautbarungen des Präsidenten, des Premierministers, der Außenministerin usw. Einseitige Erklärungen Bulgariens, dass es die makedonische Sprache als bulgarischen Dialekt ansieht, sind der Europäischen Union zugegangen. Wir wissen auch, dass Bulgarien alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union über seine Interpretation der Geschichte Makedoniens vollumfänglich informiert hat.

Erlauben Sie uns an dieser Stelle eine Bewertung: Es handelt sich hierbei um Positionen des bulgarischen Staates, die seit seiner Gründung im 19. Jahrhundert kontinuierlich territoriale Ansprüche auf Makedonien formulieren und diese auf die Bevölkerung ausgedehnt haben. Diese Positionen Bulgariens standen im Widerspruch mit den jeweiligen Positionen Serbiens und Griechenlands, die die gleichen oder ähnlichen Ansprüche auf Makedonien und seine Bevölkerung stellten.

Sie werden sicherlich mit uns zustimmen, dass diese Positionen aus dem 19. Jahrhundert, die in unsere heutige Zeit transportiert werden, absolut zu verurteilen sind. Die Positionen Bulgariens sind für uns als makedonische Gemeinschaft nicht hinnehmbar, sie verletzen das Selbstbestimmungsrecht des makedonischen Volkes und der makedonischen Nation und beinhalten nationalistische, revisionistische und geschichtsverfälschende Elemente, wenn man sich insbesondere die Rolle der bulgarischen Okkupation während des Zweiten Weltkriegs im Hinblick auf die Deportation und der systematischen Ermordung der makedonische Juden im Konzentrationslager Treblinka vergegenwärtigt. Wir müssen leider auch konstatieren, dass Bulgarien keinerlei Entschuldigung für die Bulgarisierungspolitik während der Besatzungszeit des Zweiten Weltkriegs in Makedonien äußert, sondern diese historische Phase offenbar als absolut gerechtfertigten Vorgang ansieht.

Sie können sicherlich nachvollziehen, dass aufgrund dieser Gründe die makedonische Zivilgesellschaft keine Grundlage sieht, die bulgarische Gemeinschaft in die Verfassung aufzunehmen. Unabhängig davon gibt es keine parlamentarische Mehrheit für diesen Schritt. Nach der Änderung des Staatsnamens, den die makedonische Nation (schwer) verkraftet hatte und zu einer massiven Polarisierung innerhalb der makedonischen Gesellschaft geführt hat, wird die makedonische Nation die bulgarischen Forderungen nicht überleben, die einer nationalen Selbstaufgabe gleichen. Faktisch verlangt Bulgarien die Anerkennung, dass die Makedonier*innen bis 1944 ein Teil des bulgarischen Volkes waren und diese im Rahmen der Gründung der jugoslawischen Föderation vom „bulgarischen Muttervolk“ abgetrennt worden seien. Dies ist eine Position, die nicht den historischen Tatsachen entspricht und für die makedonische Seite inakzeptabel ist.

Um es auf den Punkt zu bringen: Die Verfassungsänderungen, so wie Sie im Beitrittsverhandlungsrahmen vorgesehen sind, sind so nicht umsetzbar. Die Opposition ist sehr klar in ihrer Haltung, dass sie in dieser Form den Verfassungsänderungen nicht zustimmen wird.

Der makedonische Beitrittsprozess ist kontaminiert von bilateralen Forderungen Bulgariens, die historisch-revisionistische Züge haben und keinerlei Bezüge zu den formalen Beitrittskriterien aufweisen. Der Reformprozess, der durch die Beitrittsverhandlungen im Vordergrund stehen sollte, wird hier in den Hintergrund gedrängt.

Aus diesem Grund sehen wir keinen anderen Weg, als den Beitrittsverhandlungsrahmen für die Republik Makedonien dahingehend zu verändern, so dass die bilateralen Forderungen Bulgariens bzw. deren Verweise und Bezüge aus dem Verhandlungsrahmen herausgelöst werden. Nur so kann ein normaler und geregelter Prozess für Makedonien garantiert werden, der die Unsicherheiten aufgrund neuer, bulgarischer Forderungen zumindest formal einschränkt.

Selbstverständlich ist es wichtig, dass beide Länder ihre offenen historischen Fragen miteinander besprechen und klären, was im Moment im Rahmen der Historikerkommission beider Länder auch passiert. Jedoch darf der Fortschritt der Arbeit der Historikerkommission nicht über das Weiterkommen Makedoniens im Beitrittsprozess entscheiden, der dann womöglich von Bulgarien definiert und bewertet wird. Diese Gespräche können parallel zum Beitrittsprozess erfolgen, die jedoch separat, außerhalb der Beitrittsverhandlungen stattfinden sollten. Sie müssen auf Augenhöhe und gleichberechtigt stattfinden. Wir fragen uns allen Ernstes, ob beispielsweise die Europäische Kommission über die Interpretation von Geschichte urteilen und wie sie über einen Fortschritt oder einen Rückschritt in diesem Bereich urteilen soll. Wir können nicht akzeptieren, dass die Interpretation von Geschichte in diesem Fall über die Hintertür zu einem Beitrittskriterium werden soll.

Wir bitten Sie aus dem Grund, sich mit diesem Gedanken zu befassen. Wir wissen, dass eine Veränderung bzw. eine Anpassung des Verhandlungsrahmens ein schwieriger Diskussionsprozess darstellen wird und für solch ein Vorhaben die Unterstützung aller Mitgliedsstaaten notwendig sein wird, einschließlich Bulgariens. Nur eines ist sicher: Für weitere Konzessionen gibt es in der makedonischen Gesellschaft keine Mehrheit. Die Änderung des Staatsnamens stellte ein traumatischer Schritt für die gesamte Nation dar; die internationale Gemeinschaft versicherte dem Land, dass nach diesem Schritt der Weg in die EU und NATO geebnet sei. Der NATO-Beitritt ist erfolgt, jedoch scheint die EU für das Land in weiter Ferne. Der bulgarische Staatspräsident Radew bestätigt in seinen Verlautbarungen, dass die Verfassungsänderungen erst der Anfang der bulgarischen Forderungen seien.

Wir können mit Sicherheit prognostizieren, dass nach dem Ende des Screening-Prozesses die weitere Annäherung des Landes an die EU zum Erliegen kommen wird, sollte der Beitrittsverhandlungsrahmen für Makedonien nicht entsprechend verändert werden.

Wir hoffen auch, dass Bulgarien seine grundsätzliche Position Makedonien gegenüber ändert und die Nation als gleichberechtigtes Mitglied in den Vereinten Nationen und auch in der NATO und zukünftig auch in der EU ansehen wird. Wir geben an dieser Stelle zu bedenken, dass Bulgarien beim NATO-Beitritt des Landes keinerlei Bedenken geäußert hatte. Dieses Verhalten Bulgariens, indem es offen die historische Legitimation einer Nation und NATO-Bündnispartners in Frage stellt, kann langfristig zu einem Sicherheitsproblem innerhalb des südöstlichen Flügels der NATO werden, wenn auf dieser Grundlage Vertrauen und Kooperationsbereitschaft gefährdet werden.

Wir hoffen, dass wir mit unseren Ausführungen bei Ihnen auf Verständnis stoßen können und entschuldigen uns an dieser Stelle für die teilweise längeren Ausführungen. Aufgrund der Komplexität der bilateralen Beziehungen beider Länder hielten wir dies jedoch für unumgänglich. Wir können Ihnen versichern, dass es sich hierbei um keine Minderheitenposition handelt, sondern weite Teile der makedonischen Zivilgesellschaft, Expert*innen aus makedonischen Think Tanks sowie die makedonische Gemeinschaft in Deutschland unserer dargelegten Position so anschließen können.

Nach über 17 Jahren Kandidatenstatus hat Makedonien es nun endlich verdient, unter den gleichen Voraussetzungen wie alle bisherigen Beitrittskandidaten die Beitrittsverhandlungen zu führen. Das Land hat hier deutlich Kompromissbereitschaft in der Vergangenheit gezeigt, und hat dabei Schritte unternommen, die bisher von keinem weiteren Beitrittskandidaten verlangt worden waren. Weitere sog. „Kompromisse“, die sich auf die Identität des makedonischen Volkes, seiner Sprache, Kultur und der eigenen Geschichte beziehen, sind nicht möglich.

Die bilateralen Positionen Bulgariens und die sich daraus ergebenden Forderungen sind nicht kalkulierbar und können nicht vorhergesehen werden. Sie haben keinen Zusammenhang mit den Beitrittskriterien und verletzen das garantierte Selbstbestimmungsrecht im Rahmen der Vereinten Nationen. Aus diesem Grund muss der Beitrittsverhandlungsrahmen von diesen Elementen bereinigt werden. Ansonsten kann Makedonien seinen Beitrittsprozess nicht weiter fortsetzen und kann eventuell verstärkt in den Einflussbereich weiterer globaler Akteure geraten.

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffen auf Ihre weitere Unterstützung Makedoniens auf dem Weg in die Europäische Union.

Mit freundlichen Grüßen

Robert Klenkoski, Vorsitzender

Goran Nikoloski, Stellvertretender Vorsitzender