Zur Geschichte der Volkszählung in Makedonien

von Wolf Oschlies

Auszug aus seinem Buch „Makedonien 2001-2004 Kriegstagebuch aus einem friedlichen Land“, Xenomoi Verlag 2004

Die heutige Republik Makedonien ist das Vardar-Makedonien bekannte Drittel des alten Makedoniens, das nach den Balkankriegen 1912/13 zu Serbien und 1918 zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS, ab 1929 Jugoslawien) kam. In diesem Umfeld gab es alle zehn Jahre Volkszählungen, welcher Rhythmus nur durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen wurde. Für Makedonien wiesen diese die folgenden Bevölkerungsentwicklung auf:

 1921193119481953
Total808.724949.9581.152.9861.304.514
Männer401.468478.519584.002659.861
Frauen407.256471.439568.984644.653
Einw./km231,536,944,850,7
 1961197119811991
Total1.406.0031.647.3081.909.1362.033.964
Männer710.074834.692968.1431.027.852
Frauen695.929812.616940.9931.006.112
Einw./km254,764,174,279,1

Aus allen diesen Volkszählungen folgte weiter, dass die makedonische Gesellschaft generell „jung“ ist, auch wenn die Altersgruppe 0-24 Jahre neuerlich einen deutlichem „Knick“ aufwies: 1921 stellte sie 53,4%, 1948 gar 57,4%, 1991 nur noch 39,45%.

Interessant und aussagekräftig waren auch die Daten zur ethnischen Komposition der makedonischen Gesellschaft, die sich global wie folgt ausnahm:

 19531961197119811991
Makedonen860.6991.00.8541.142.3751.279.3231.328.187
Albaner162.524183.108279.871377.208441.987
Türken203.938131.481108.55286.59177.080
Roma20.46220.60624.50543.12552.103
Vlachen (Rum.)8.6688.0467.1906.3847.764
Sonstige48.22361.90894.815116.505126.843

Diese ethnische Fragmentierung würde gewiss bei der kommenden Volkszählung eine Ausweitung erfahren, da sich im April 2001 einige neue ethnische Parteien bildeten, was als eine Art Bewusstwerdung seinen statistischen Niederschlag finden sollte – bei Türken, Roma und Vlachen (einem Teil des rumänischen Ethnikums, der allgemein als Cincaren, Kuzo-Vlachen, Macedo-Rumänen, Aromunen etc. bekannt ist). Im Übrigen besagt die obige Tabelle ohnehin nicht viel, da bei manchen Volksgruppen die definitorische Grundlage fehlt. Wie will man z.B. die Roma definieren, wenn sie selber keine Volksgruppe sein wollen und die Sprache und Konfession ihrer Umgebung annehmen? Aus den Arbeiten, die Blaže Koneski (1922-1997) zur makedonischen Sprache verfasste, ist zudem bekannt, dass diese Sprache der kolloquiale Standard für das Gros der Türken in Makedonien ist. So gesehen, können Angaben zu den jeweiligen „Muttersprachen“ einigen Aufschluss zu ethnischer Selbstidentifikation oder Umorientierung zulassen:

Sprache19481991
Makedonisch902.0001.403.171
Albanisch188.000432.226
Türkisch144.00066.334
Sonstige70.000132.233

Verwirrend wird das Bild hingegen wieder, wenn man Konfessionsstatistiken heranzieht, denn die entsprechenden Angaben verwischen ethnische Unterschiede in unzulässiger Weise: Makedonen und Serben sind „orthodox“, aber orthodoxe Kirchen sind per definitionem nationale Kirchen, und die Kirchen der Makedonen (MPC) und der Serben (SPC) liegen seit Jahrzehnten in heftigstem Streit, welche von den beiden die „Mutterkirche“ ist. Muslime sind auch Türken, Albaner und zahlreiche Roma, aber die im Grunde areligiösen Albaner haben in der Vergangenheit diese konfessionelle Gleichheit oft dazu genutzt, islamische Nicht-Albaner dem albanischen Ethnikum zuzuschlagen.

Seit es die Republik Makedonien als souveränen Staat gibt (17. November 1991), ist in ihrer Innenpolitik die „makedonisch-albanische Populations-Proportion“ eine Frage von „höchster Priorität“. Die Volkszählung von 1994 versuchte, hier Klarheit zu schaffen, als sie die folgende ethnische Komposition ermittelte:

EthnikumAnteil (%)
Makedonen66,6
Albaner22,9
Türken4
Roma2
Serben2
Vlachen0.4
sonstige1.9

Wie bereits erwähnt, war dieser Volkszählung kein dauernden Erfolg beschieden. Bei der bevorstehenden soll das anders werden: Das von Svetlana Antonovska geleitete Staatsamt für Statistik (Državen zavod za statistika, DZS) steht seit Jahren unter „konstantem Monitoring von EUROSTAT“, also dem Statistikamt der EU, um jede denkbare Beeinträchtigung der Volkszählung auszuschließen. Die Vorbereitung auf diese begann Anfang 1999, ein Probezensus (proben popis) prüfte 2000 den Grad der Vorbereitung – wobei man sich streng an zwei internationale Empfehlungen hielt, derartige Probedurchläufe nicht im Umkreis von Wahlen abzuhalten -,die gesetzgeberische Vorkehrungen folgten ab Dezember 2000, das endgültige Gesetz wurde am 20. Februar 2001 vom Parlament verabschiedet. Danach hätte die Volkszählung bereits im März stattfinden müssen, was weniger Vorlauf als 1994 bedeutet hätte. Da zudem das DZS gerade in diesem Monat in zahlreiche internationale Fachverpflichtungen involviert war, wurde die erste Verschiebung auf Mai allseits begrüßt. Auch die zweite, von Sicherheitserwägungen bedingte Verschiebung dürfte vom DZS ausgegangen sein, das mit der Staatlichen Volkszählungskommission (Državna popisna komisija, DPK) über eine Art „Verbindungsorgan“ zur Regierung verfügt. Sehr zufrieden war das DZS mit dem „Insistieren der Albaner auf einer internationalen Überwachung der Volkszählung“, denn ein solches „Monitoring“ kam seinen politischen Absichten und fachlichen Interessen vollauf entgegen. Auch der veranschlagte Finanzrahmen von 10 Millionen DM war gesichert und wurde nicht zuletzt zur Schulung von „einigen Tausenden Volkszählern“ (nekolku iljadi popišuvači) ausgegeben werden. Gezählt werden „Personen, Haushalte und Wohnungen“, wobei die Personen in folgenden Kategorien eingeteilt sind:

  • Personen mit ständigem Wohnsitz in der Republik
  • Ausländer mit zeitweiliger Aufenthaltserlaubnis (von mindestens 12 Monaten)
  • Personen (samt Mitgliedern ihrer Haushalte) mit ständigem Wohnsitz in der Republik, die sich seit höchstens 12 Monaten vor der Volkszählung im Ausland aufhalten
  • Personen mit ständigem Wohnsitz in der Republik, die zum Zeitpunkt der Volkszählung im Ausland in diplomatischen, konsularischen, militärischen, kommerziellen etc. Vertretungen beschäftigt bzw. auf Studien- und Qualifizierungsaufenthalten sind
  • Ausländer mit anerkanntem Flüchtlingsstatus
  • Ausländer mit anerkanntem Asylstatus
  • Sonstige Personen, die sich zum Zeitpunkt der Volkszählung in der Republik aufhalten

Probleme wurden allein bei der dritten der oben genannten Kategorie erwartet, denn man erinnerte sich noch recht gut daran, wie die Volkszählung von 1991 und 1994 dadurch partiell manipuliert wurden, dass Menschen, die in Wahrheit Dauerwohnsitz im Ausland hatten, mit Sonderflügen und Taxis heimgeholt wurden, um zu Gunsten eines bestimmten Ethnikums im Zensus erfasst zu werden. Andere „Probleme“ waren dagegen eher infantil, etwa wenn die PDA Fragebögen in albanischer Sprache für albanische Siedlungsgebiete, die PDP solche aber für alle Albaner fordern.

Als sicher konnte bereits angenommen werden, dass der Anteil der Albaner höher ausfallen würde als 1994 – allerdings keinesfalls in der Höhe der von ihnen postulierten 40 Prozent. In den makedonischen Medien war von „Schätzungen der Statistiker“ die Rede, denen zufolge dieser Anteil zum 1. Januar 1998 23,5 Prozent, zum 1. Januar 2000 23,9 Prozent ausmachte und gegenwärtig bei 24 Prozent liegen dürfte. Genauer hat dieses Problem Dončo Gerasimovski, früher Leiter des DZS, untersucht. Danach ist der natürliche Zuwachs der Bevölkerung Makedoniens in den Jahren 1994 bis 1999 laufend zurückgegangen, um sich erst 2000 wieder zu stabilisieren. Ausgenommen die Roma, haben alle Volksgruppen deutlich weniger zugenommen (Makedonen von 5.186 auf 949), Albaner von 9.540 auf 7.161 und 2000 auf unter 7.000) Laut Gerasimovski verweist dieser Rückgang auf eine Verstärkung von Urbanisierung und Bildungserwerb, was nach allen demographischen Erfahrungen mit einer rückläufigen Natalität einhergeht. Dafür spricht auch, dass in den Schulen aller Stufen deutlich mehr Mädchen angemeldet wurden – die als spätere gebildete Frauen weniger Kinder haben werden.

Die Frage des Zuwachses hat in Makedonien insofern eine politische Relevanz, als viele Albaner hier sozusagen den Umschlag einer wachsenden Quantität in eine neue Qualität erwarten. So sprach z.B. Shkelzen Mailiqi unlängst in einem Interview (Feral Tribune, Split, 24.3.2001) davon, dass „demographische Prognosen gezeigt haben, dass in einigen Jahrzehnten die Albaner die Mehrheit in Makedonien haben werden“. Eben das ist die geheime Angst der Makedonen, obwohl es solche Prognosen nicht gibt. Nach Gerasimovski lebten zum 1. Januar 2000 in Makedonien genau 2.021.578 Menschen, darunter 1.310.044 Makedonen (64,80 %) und 483.468 Albaner (23,92%). Das sich dieses Verhältnis bei einzelnen Altersgruppen verschob, und zwar bei den jüngeren deutlich zu Gunsten der Albaner, musste nicht bedeuten, dass die befürchtete „demographische Übernahme“ Makedoniens durch diese eintreten wird. Dagegen sprechen einige Trends, die früh schon erkennbar waren:

  • Bereits gegenwärtige Geburtenraten, deutlich niedriger als etwa bei Albanern im Kosovo, verweisen auf eine langsame Auflösung patriarchalischer Familienstrukturen, die einem Kinderreichtum förderlich waren
  • Die Lebenserwartung der Albaner ist erheblich geringer, was auf Defizite im medizinisch-pflegerischen Bereich der Familien schließen lässt – deren Behebung erfahrungsgemäß ebenfalls Geburtenzahlen sinken lässt
  • Die bereits laufende Assimilation der Serben und Vlachen wird das makedonische Ethnikum stärken (auch wenn die beiden Volksgruppen nicht sonderlich groß sind)
  • Die starke albanische Diaspora in Westeuropa und in den USA fördert die Auswanderung von Albanern
  • Als mächtiger „Magnet“ könnte schließlich ein wirtschaftlich prosperierendes Kosovo wirken, eventuell in Verbindung mit dessen staatlicher Souveränität

Mit anderen Worten: Es besteht keine Gefahr für die Makedonen und keine Aussicht für die Albaner, Makedonien militärisch-terroristisch und/oder demographisch im Sinne ihrer nationalistischen Wortführer umzuwandeln. Makedonien wird sich gewiss eines Tages wandeln, aber in dem heute „real existierenden“ Makedonien ist kein Platz für gewaltsame Lösungen der ethnischen Exklusivität. Hier auf alle Beteiligten mäßigend, helfend, beratend einzuwirken, ist eine große Aufgabe für die internationale Gemeinschaft.

Geschichte der Volkszählung

Erste Zensusdaten wurden in Makedonien bereits 1900 und 1913 erhoben. Bedeutung hatten beide Erhebungen nicht: 1900 war Makedonien noch integraler Bestandteil des Osmanischen Imperiums, und dessen Volkszählungen bezogen sich nie auf die Gesamtbevölkerung einer Region; dennoch dürfte die ermittelten Gesamtzahl von 908.000 Einwohnern für „Vardar-Makedonien“, das dem Gebiet der heutigen Republik entsprach, ziemlich zutreffend gewesen sein. Die ersten „amtlichen“ Volkszählungen fanden 1921 und 1931 statt, als Makedonien Teil des „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“ war, das sich ab 1929 „Königreich Jugoslawien“ nannte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Makedonien Teilrepublik in Titos jugoslawischer Föderation wurde, konnten regelmäßige Volkszählungen abgehalten werden. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs verzeichnete Makedonien einen permanenten Rückgang der Natalität von 40,7% (1948) über 20,6% (1981) auf 17,3% (1994). Das wirkte sich wiederum in einem Rückgang des natürlichen Bevölkerungszuwachses aus, der von 26,3% (1948) auf 9,2% (1994) fiel. Diesem Rückgang wirkten allerdings zwei Erscheinungen entgegen, nämlich erstens die unverändert hohe Natalitätsraten bei den ethnischen Minderheiten, vor allem bei Albanern und Roma, und zweitens die heimliche Zuwanderung von Albanern aus dem Kosovo. aus beiden Faktoren resultierte die folgende Zunahme der albanischen Volksgruppe in Makedonien:

Jahr194819531961197119811991
Gesamtzahl197.389162.524183.108279.871377.726447.695
Anstieg (%)-17,712,732,834,918,5

Aus diesen differierenden natürlichen und mechanischen Zuwächsen ergab sich eine Fülle von politischen Problemen: Die Makedonen befürchteten eine laufende Verschiebung der ethnischen Zusammensetzung zu ihren Ungunsten, so dass sie – nach Berechnungen der Wirtschaftswissenschaftlerin Elka Dimitrieva – etwa im Jahre 2015 eine Minderheit im eigenen Staat bilden würden. Die Albaner ihrerseits stellten überoptimistische Bevölkerungsprognosen auf, nach denen sie bereits viel früher die Mehrheit in Makedonien stellen würden. Die laufende heimliche Zuwanderung, die allein 1999 durch die NATO-Aktion im Kosovo um 20.000 Menschen erhöht wurde, nährte bei den Ankömmlingen die Angst vor Entdeckung und Ausweisung, was dann im ganzen albanischen Ethnikum zu Boykotts von Volkszählungen führte.

Der erste Totalboykott traf die Volkszählung von 1991, die einen albanischen Bevölkerungsanteil von rund 21 Prozent auswies. Die Albaner hatten ihren Boykott mit unzureichenden Zählungsmethoden begründet, denn ihrer Meinung nach stellten sie 800.000 Menschen oder „mindestens“ 40 Prozent. Diese unbegründete Angabe konnten sie jedoch erfolgreich „internationalisieren“. Unter internationalem Druck willigte die makedonische Regierung ein, vom 1. bis 15. April 1994 eine neue Volkszählung durchzuführen. Gegen diese protestierten die Anhänger des noch bestehenden „Bundes der Kommunisten“ (SKM), die unter starkem Einfluss von Serbiens Milosevic standen und zu einem Boykott aufriefen, um die makedonischen „Vasallen“ der internationalen Gemeinschaft in die Schranken zu weisen. als dann die Volkszählung im Juni endlich ablief, gab es keinen makedonischen Boykott, wohl aber einen halben albanischen: Die PDP drohte mit einem Boykott, nahm die Drohung wieder zurück, weigerte sich aber, zur Unterstützung der Volkszählung aufzurufen oder gar die Radikalen in den eigenen Reihen zu zähmen. Im Übrigen behielt sie den Standpunkt von 1991 bei, dass die ganze Volkszählung ohnehin falsche Angaben zur Stärke des albanischen Ethnikums liefern und damit der politischen Diskriminierung der Albaner Vorschub leisten werde. Von all dem waren die internationalen Experten der Internationalen Census Observation Mission (ICOM) völlig überfordert und ließen das ausgerechnet die makedonische Regierung spüren, die sich plötzlich gegen albanische Ansprüche und internationale Verdächtigungen wehren musste. So konnte die Volkszählung von 1994 nicht mehr als ein statistischer Erfolg und ein politischer Fehlschlag werden: Zwar bestätigte sie die Basisdaten von 1991, konnte aber nichts gegen die ethnisch-politische Obstruktion tun, die sich bei den Volkszählungen erstmals zeigte und später zu bewaffneten Konflikten führte.

Titelbild „Die Landschaft Macedonien“: Historische Karte Makedoniens, gezeichnet um 1760 von dem deutschen Geographen und Historiker Anton Friedrich Büsching (1724-1793)

Makedonien 2001-2004. Kriegstagebuch aus einem friedlichen Land, Wolf Oschlies

326 Seiten, Taschenbuch (kartoniert). ISBN: 3-936532-40-0   Preis: 16,80 €

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Mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers