Die Tragödie der Juden von Štip (Makedonien)

Geschrieben von: Wolf Oschlies

Das ostmakedonische Städtchen Štip (gespro­chen. Schtip) ist eine Ansiedlung von ausneh­mendem Reiz: In einem fruchtbaren Bergtal gelegen, von der Bregalnica durchflossen, Hei­mat eines legendären Rotweins, mit repräsen­tativen Bauten reichlich versehen und von einer „unbalkanisch“ kreativen Bevölkerung bewohnt. Das macht kaum eine andere Ortschaft Štip und den „Štipjani“ nach, zumal diese auch einen historischen und regionalkulturellen Primat einnehmen.

Das jüdische Štip in der Geschichte

Die Slaven, die seit Jahrhunderten die Bevölkerungsmehrheit der Balkan-Halbinsel stel­len, kamen erst um das Jahr 540 n. Chr. hierher. Als „Navi“ hätte ihnen die „Tabula Peu­tingeriana“ dienen können, jener nach seinem letzten Besitzer, dem Nürnberger Kauf­mann Konrad Peutinger (1465-1547), benannte frühmittelalterliche Atlas, der auf elf Blättern – Gesamtlänge 7 Meter – die damals bekannten Teile der Welt verzeichnete. „Section“ 6 enthält „Macedonia“, wie es damals bereits ein guter Begriff war: Von Ligi­duna (Ohrid) im Westen über Stobi, Astibo (Štip) nach Serdica (Sofia) und weiter bis nach Solun (Thessaloniki), wobei Štip nach dem profunden Urteil des deutschen Bal­kanologen Leonhard Schultze-Jena stets die Hauptstation des deutschen und europäi­schen Großhandels mit dem Balkan bildete: 35 Tage dauerte, so Schultze-Jena, die Reise der Karawanen von 1.000 und mehr Pferden, die Güter von Solun nach Wien und zurück brachten, immer über Štip. Detailliert hat der wunderbare Balkan-Chronist Evliya Celebi von dem Treiben berichtet, das damals in Štiper Woll-, Fleisch- und Milchge­schäften und vor allem auf den lokalen Märkten herrschte.

Štip war das ökonomische Pendant des ehrwürdigen Stobi, bekannt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert. Die Römer eroberten es im Jahre 168 v. Chr. und machten es 69 v. Chr. zum regionalen Zentrum (municipium), das anfänglich nur knapp vier Hek­tar maß, bald aber auf fünffache Größe anwuchs, da es den für die Viehzucht wichtigen Salzhandel dirigierte. Stobis Erfolg spiegelte sich in Bauten wie Tempel, später Kirchen, Verwaltungsgebäuden, einem Theater und einer Synagoge wider. Die Stadt ist ein stei­nernes Zeugnis dafür, wie früh Juden auf dem Balkan präsent waren. Diese siedelten auch im 50 km entlegenen Štip, das weniger repräsentativ, aber mehr ökonomisch ge­prägt war.

Diese Rolle behielt es bei, als die Slaven den ganzen südlichen Balkan einnahmen und speziell Makedonien im 10. nachchristlichen Jahrhundert unter Zar Samuil seine Eigen­staatlichkeit errang. Die ging im Jahre 1018 wieder verloren, als Makedonien von Byzanz unterworfen wurde, wobei Štip als Zentrum von Handel und Handwerk aber noch zulegte. Daran änderte sich auch nur wenig, nachdem die Osmanen unter Sultan Mehmed II. 1453 Byzanz einnahmen und es als „Istanbul“ (Konstantinopel) zur neuen Hauptstadt ihres Reichs machten.

Zu allen Zeiten hatte es jüdische Immigration auf den Balkan gegeben, massiert ab dem späten 15. Jahrhundert.  Am 31. März 1492 verfügten Ferdinand und Isabella von Kasti­lien per Dekret die Vertrei­bung aller Juden aus Spanien, worauf etwa 100.000 Juden in die Türkei flohen. Zuvor hatten nicht wenige versucht, in Portugal zu bleiben, von wo sie nach wenigen Jahren ebenfalls vertrieben wurden. Von diesen scheinen manche bis nach Štip gelangt zu sein, wie die Klangfärbung ihres „shargons“ (Alltagssprache) oder ihres „Judenspa­nisch“ (dshudesmo) verriet. Laut türkischen Dokumenten lebten 1512 in Štip 38 jüdische Familien mit zusammen rund 200 Angehörigen. Diese Zahlen gingen auf und ab, meist in Resonanz zu der langwährenden Pestepidemie, obwohl diese in Štip so „milde“ ausfiel, vermutlich wegen der guten Frischwasserversorgung der Stadt, dass sie zur Zuflucht für Juden aus anderen Städten wurde.   

Jüdischer Alltag im 20. Jahrhundert

Štip zählt heute etwa 50.000 Einwohner und erinnert sich in Schmerz und Stolz daran, dass unter seinen 4.000 Einwohnern Ende des 18. Jahr­hunderts eine nach Hunderten zählende jüdische Volksgruppe lebte, die den Handel mit Solun und seiner numerisch und ökonomisch starken jüdischen Kommunität auf Touren brachte.

Laut der Volkszählung, die 1890 in den Regionen Thessaloniki, Bitola (Monastir) und Kosovo organisiert wurde, lebten in Štip unter über 3.000 Einwohnern 350 Juden. 1913 zählte man in Štip 25.000 Einwohner, darunter 750 Juden. Diese numerischen Diffe­renzen binnen weniger Jahre sind unerklärlich, sofern man nicht unterstellt, dass die niedrigeren Zahlen osmanischen Zählungen entstammen, welche nur (muslimische) Männer erfassten, während die höheren Zahlen von 1913 nach den Balkankriegen ermittelt wurden, als die neue Westgrenze Bulgariens Štip gerade noch einschloss.

Alles in allem erging es den Juden in Štip nicht schlecht. Bis 1910 bestand für sie eine „Jüdische Schule“, die den Kindern Religions- und Sprachenunterricht erteilte, dazu Grundrechenarten, türkische Sprache etc. Im Februar 1910 eröffnete die „Alliance Israé­lite Universelle“ – der 1860 in Paris gegründete Hilfsverein, der die Rechtsstellung der Juden verbessern wollte und auf dem Balkan, im Orient und in Afrika 150 Schulen un­terhielt – in Štip eine neue Schule. In den Balkan-Kriegen wurde Štip angeblich von „bulgari­schen Banden“ verwüstet, wobei 30 jüdische Läden zerstört wurden. Ob diese Anga­ben zutreffen, sei dahin gestellt. Schlimmer für Štip und ganz Makedonien war, dass das Land durch den „Bukarester Frieden“ vom 10. August 1913 unter den Kriegs­siegern aufgeteilt wurde, wobei diese Teilung im Grunde bis zur Gegenwart andauert:

TerritoriumGröße (km²)Anteil (%)
Makedonien, total68.451100
Ägäisch-Ma­ke­do­ni­en (an Grie­chen­land)34.41150,3
Vardar-Ma­ke­­donien (an Serbi­en)26.44038,6
Pirin-Make­donien (an Bulgarien)  6.798  9,9
Golo Brdo (an Alba­ni­en)     802  1,2

Jugoslawien, Bulgarien, Deutschland

Der Erste Weltkrieg hatte in und um Serbien begonnen, das ihn auf der Siegerseite be­endete. Die ehemaligen Wiener Untertanen Bosnien, Kroatien und Slowenien strebten zu Serbien, um nicht als herrenloses Gut des Kriegsverlierers Öster­reich-Ungarn behan­delt zu werden. So entstand am 1. Dezember 1918 das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS), das am 12. Mai 1921 seine parlamenta­ri­sche Weihe erhielt: In der verfassungsgebenden Versammlung gab es 227 Pro- und 93 Gegenstimmen für das SHS. Auch die vielfach diskutierte Idee, den neuen Staat nach deutschem Vorbild als „Föderation“ zu gestalten, fand im „Verfassungsausschuss“ des Parlaments keine Mehr­heit. In Belgrad und Zagreb fürchtete man, dass die Slowenen sich „Deutsch-Österreich“ anschließen würden. Erst 1929 wurde das SHS in „Jugoslawien“ umbenannt und einer territorialen Neu­glie­derung unterzogen, die den regionalen Nationalismus eindämmen sollte. An die Stelle der historischen Länder traten „Banschaften“ (ba­novine), die zumeist nach Flüssen benannt waren. So wurde aus Makedonien die „Vardar-Banschaft“, aber für Bulgarien blieb die Region sein historisches Eigentum.

Deutschland war ab 1940 Bulgariens einziger Verbündeter, das bulgarische Territorial­wün­sche für seine eigene Kriegsplanung nutzte. Das hat ein geistvolles Flugblatt der „Feinde“ Deutschlands den Bulgaren in ihrer Sprache zu erklären versucht. Im Hintergrund ruft eine Frau „Ivan, Ivan! Das Haus brennt!“ Aber Ivan steigt über den Zaun „bulgarische Grenze“, um die nachbarlichen Gänse „Makedonien“ und „Thrakien“ zu stehlen. Hatten die Bulgaren eine Chance? Das nationalsozialistische Deutschland vermittelte, dass Rumänien am 7. Sep­tember 1940 im Vertrag von Craiova die von ihm 1918 eingenommene Süd-Dobrudsha – 7.565 km², 358.000 Einwohner – an Bulgarien zurückgab, zumal die fruchtbare Region fast zur Gänze bulgarisch besiedelt war. Dieser Tausch war korrekt, er blieb als nahezu einzige Territorialänderung des Zweiten Weltkriegs bis heute in Kraft. Anders verhielt es sich mit dem jugoslawischen Makedonien und dem griechischen Thrakien, die die Deut­schen im April 1941 in ihrem Balkan­feldzug „Marita“ erobert und Bulgarien überantwortet hat­ten. Damit hatte Bulgarien eine „Bringeschuld“ ge­genüber Hitler übernommen, die es zum Jahreswechsel 1940/41 mit dem „Gesetz zum Schutz der Nation“, eine leicht abge­mil­derte Version der deutschen „Nürnberger Geset­ze“, zu begleichen suchte. Den Deut­schen reichte das nicht, und auf der berüchtigten Wannsee-Konferenz, auf der am 20. Januar 1942 die „Endlösung der Judenfrage“ be­schlossen wurde, hatten sie ihr „In­ter­esse“ an den bulgarischen Juden, laut Zensus von 1934 48.398 Personen, bekundet.

Am 1. März 1941 trat Bulgarien der „Achse Berlin-Rom-Tokio“ bei, was von Teilen der damaligen deutschen Presse als sein „Eintritt in den Krieg“ gewertet wurde. War dem so? Bulgarien weigerte sich strikt, Hitlers am 22. Juni 1941 gestarteten Krieg gegen die Sowjetunion mitzutragen. Bulgarien war keine Militärmacht, der am 27. No­vember 1919 mit ihm geschlossene Friedensvertrag von Neuilly hatte ihm nur eine klei­ne Armee von 30.000 Angehörigen (Soldaten und Offiziere) erlaubt. Erst durch das „Sa­loniki-Abkom­men“ vom 31. Juli 1938, welches es mit dem „Balkan-Pakt“ (Griechenland, Jugoslawien, Rumänien, Türkei) schloss, erlangte es wieder seine „militäri­sche Unab­hängigkeit“.

Dahinter zogen Deutsche die Fäden, die nicht sehen wollten, dass ein unmilitärisches Bulgarien ein Partner von höherem Wert gewesen wäre. Zum einen hatten die Bulgaren im Juni 1920 den obligatorischen „Arbeitsdienst“ (trudova povinnost) für alle Jugendli­chen geschaffen. Hier landeten die jungen Bulgaren, die man nicht in der Armee ge­brau­chen konnte, unterwies sie in Lesen, Schreiben, Hygiene etc. und ließ sie gemein­nützige Arbeit leisten, z.B. Straßenbau. Damit wurde der bulgarische „Arbeits­dienst“ zum Vorbild und Muster aller ähnlichen Organisationen in Europa, auch und gerade des nationalsozialistischen „Reichsarbeitsdienstes“.

Ähnlich und noch weitreichender war die bulgarische „zivile Mobilisierung“ (grashdanska mobilisacija), die von 1939 bis 1945 erfolgreich bemüht war, alle in Bulgarien lebenden Männer und Frauen (Bulgaren oder Ausländer) von 16 bis 70 Jahren einer militärischen Arbeitsorganisation zu unterwerfen und die ganze Wirtschaft auf kriegswichtige Produk­tion und Versorgung auszurichten. Das Vorhaben konnte nie im vorgesehenen Umfang realisiert werden, aber mit 110.000 „mobilisierten Personen“ pro Jahr war es eine ge­wichtige Vorbereitung auf eventuelle Kriegsnöte. Dabei hat Bulgarien bis zum Früh­herbst 1944 überhaupt keinen Krieg geführt, son­­dern als „neutrales Land“ in rela­tiver Ruhe und Ordnung gelebt. In dieser Verfassung war es der Liebling deutscher „Wehr­wirt­schaftsoffiziere“ (germanski oficer za voenno stopanstvo), die nur zu gern und kaufmännisch korrekt bei bulgarischen Zementfabriken und anderen Werken einkauften.  

Auseinandersetzungen um die Deportation von Juden

Bulgarien hatte 1941 mit deutscher Billigung das serbische Pirot, das jugoslawische Makedonien und das griechische Thrakien („Weißmeer-Gebiet“) okkupiert, deren jüdische Bevölkerung der bulgarische Wirtschaftshistoriker Rumen Avramov 2018 so beschrieb:

„Damals lebten in den drei Gebieten rund 13.000 Juden, etwa 8.500 in Makedonien und rund 4.500 im Weißmeer-Gebiet. Sie waren fast ausschließlich in den großen Städten konzentriert, (…, Bitola, Štip Skopje), wo seit Jahrhunderten gut organisierte jüdische Gemeinden existierten. Die »neuen Länder« fielen sofort unter die Schläge des bereits bestehenden Gesetzes zum Schutz der Nation vom Juni 1941 und des Gesetzes über eine einmalige Sondersteuer auf jüdischen Besitz, und was es an weiteren antisemitischen Vorkehrungen in Bulgarien gab“.

Das alles interessierte das Gros der Bulgaren nicht, sofern es ihnen überhaupt bewusst wurde. Für sie war die „Okkupation“ Pirots, Makedoniens und Thrakiens die historische Wiedergutmachung früherer Kriegsverluste, wie es „Radio Stara Zagora“ am 17. Oktober 1943 stellvertretend für viele formulierte:  

„Die bulgarischen Länder, die wir bei der Ausweitung des gegenwärtigen Kriegs auf den Balkan einnahmen, sind keine fremden Länder (…) Uns war die Süd-Dobrudsha nicht fremd, die uns das befreundete Rumänien im Craiova-Vertrag freiwillig zurückgab. Und niemand würde protestieren gegen die Okkupation von Makedonien, Thrakien und der westlichen Region. Man beschuldigt uns, wir hätten unseren Nachbarn, die uns nichts getan haben, Land geraubt. Das bulgarische Volk hat keinen Fußbreit Land geraubt. Wir haben unsere eigenen Gebiete wieder in Besitz genommen, womit nach Jahrhunderten der Teilung alle Brüder unter einem gemeinsamen Dach leben“.   

Ähnlich urteilten Verkehrsfachleute und Diplomaten wie Bogdan Morfov (1872-1949), der sich Bulgarien ohne einen Mittelmeerzugang beim thrakischen Dedeagatsch nicht vorstellen konnte. Eine Dankespflicht gegenüber Deutschland kam keinem Bulgaren in den Sinn. Die Deutschen hatten relativ wenig Interesse an dem militärischen Verbündeten Bulgarien, aber größtes Interesse an den bulgarischen Juden. Diese sollten deportiert werden, für Details war das am 26. August 1942 beim Innenministerium geschaffene „Kommissariat für Judenfragen“ (Komisarstvo za Evrejskite văprosi, Bild) zuständig.

„Kommissar“ war Aleksandăr Belev (1900-1945), der 1941 in Berlin auf seine Aufgabe vorbereitet und ganz im „deutschen“ Sinne im Februar 1943 den „Delegierten“ (regionale Vertreter des Kommissariats) radikale Maßnahmen gegen Juden befahl:

„Menschen jüdischer Abstammung aus den neubefreiten Ländern (Thrakien, Makedonien, Pirot) gelten nicht als bulgarische Staatsbürger (…) und können folglich auch keinen Handel oder Handwerk ausüben. Dieser Kategorie Menschen wurde bislang Zeit gelassen, ihre Handwerke auszuüben, die sie jetzt bis zum 25. Februar 1943 aufgeben müssen, in welcher Frist auch die Delegierten dem Kommissariat schriftlich zu berichten haben, in welcher Weise diese Auflösung geschieht. Informieren sie die betreffenden Leute über diese Anordnung und beaufsichtigen Sie deren genaue Befolgung“.

Mit solchen Anordnungen erwies sich Belev als typischer Vertreter der kleinen Gruppe Bulgaren, die engere Kontakte zum deutschen Nationalsozialismus hatten und nun diese den Bulgaren wesensfremde Herrschaftstechnik verbreiten sollten. Dabei konnten sie auf die Besitzgier rechnen, die nicht wenige Bulgaren empfanden. Beispielsweise meldete sich im April 1943 bei Belev ein „Verband makedonischer Kultur-, Bildungs- und Sozialbruderschaften“, um von dem Kommissar zu verlangen, den den Juden abgenommenen Besitz ihren Mitgliedern zuzuschanzen, „die doch unter griechischem und serbischem Terror gelitten haben“.

Dem Belev-Treiben wi­der­setzte sich eine zweite „deutsche“ Gruppe – orthodoxe Geistliche, die in Deutschland studiert und promoviert hatten. Zu ihnen gehörte der Bischof von Plovdiv Kiril (Konstantin Konstantinov, 1901-1971), der 1953 erster bulgarischer Pa­triarch nach der Restitution dieses Amtes wurde. Mit ihm stritten weitere hohe Kleriker der Bulgarischen Orthodoxen Kirche (BPC), deren Leitung („Heiliger Synod“) am 15. No­vember 1940 ganz offen bei der Regie­rung gegen jede Diskriminierung von Juden pro­testiert und gefordert hatte, dass zur BPC konvertierte Juden in Ruhe gelassen würden. Ein furchtloser Kirchenstreiter gegen antijüdische Politik war vor allem Stefan (1878-1957), der anglo- und russophile Metropolit von Sofia. Er drohte dem Zaren, gefährdeten Juden notfalls Kirchenasyl zu gewähren, wenn der Monarch den Deutschen nachgäbe. Stefan schaffte es, über die Zarin Giovanna, von Hause aus eine katholische Ita­lienerin, Papst Pius XII. in die Proteste bei Zar Boris einzuspan­nen. Massive Vorwürfe, der Zar handele gegen Ehre und Moral Bulgariens, enthielt ein Protestbrief, den Dimităr Peschev (1895-1973), Vizepräsident des Parlaments, und 42 Abgeordnete (von insgesamt 160) am 17. März 1943 an Boris III. schickten. Der stand zwischen allen Linien.

Am 2. Februar 1943 hatten Belev und der Eichmann-Beauftragte Theodor Dan­necker (1913-1945) einen „Vertrag“ geschlossen, der als erste Etappe die Deportation von 20.000 Juden aus den „neuen“ Gebieten vorsah. Anfang März 1943 war der Zar bei Hitler (Bild), den er überzeugte, dass er die rest­lichen Juden in Bulgarien zu Bauarbei­ten benötigte und deshalb keiner Deporta­tion zustimme. Zähneknirschend gab die deutsche Seite nach, zumal sie gegen Boris’ „Argument“ macht­los war, er habe seine „Zustimmung zur Abschiebung nur für Juden aus den neuerworbenen Gebieten“ gegeben. Und dabei blieb er, egal welche Vorschläge ihm Dannecker und Botschafter Beckerle sonst noch machten. In Bulgarien glaubt man bis heute, die Deutschen hätten Zar Boris vergiftet, als dieser im August 1943 Hitler einen letzten Besuch abstattete. 

Die Tragödie der Juden von Štip

Zerschnitten war das Tischtuch zwischen Zar Boris und Metropolit Stefan seit den ersten Märztagen 1943, als der Bischof bei einer Dienstreise ins Rila-Kloster einem Güterzug voll mit ägäischen Juden begegnete, die ohne Brot und Wasser ins Vernichtungslager Treblinka gebracht wurden und ihrer Not mit Weinen und Klagen Ausdruck verliehen. Ste­fan war so entsetzt, dass er telegrafisch aus dem Kloster beim Zaren protestierte und den Stopp solcher Aktionen forderte. Der Zar antwortete, dass alles nach Recht und Ge­setz verliefe. Aber das war eine Unwahrheit, wie Stefan auf dem Heimweg erfuhr; er kam durch Ortschaften, die menschenleer anmuteten, weil die dort lebenden Juden im Haus­arrest auf ihren Abtransport warteten. Telefonisch verlangte der Bischof von Pre­mier Bogdan Filov (1883-1945), einem auch in Bonn ausgebildeten Archäologen, die augenblickliche Beendigung solcher Maßnahmen, was der überrumpelte Regierungschef veranlasste: 800 zur Deportation bestimmte Juden kamen frei, die Kirchen füllten sich mit begeisterten Juden, die Stefan für ihre Rettung dankten. Ähnliche Wirkung hatte der erwähnte Brief der Parlamentarier. Für den 2. April 1943 berief Stefan eine Plenarsitzung des Heiligen Synods ein, auf welcher die Kirchenfürsten kollektiven Widerstand gegen „rassistische und unchristliche Gesetze“ vereinbarten. Im bulgarischen Kernland war die Zeit für politischen Antisemitismus abgelaufen. Für alle Fälle warnte der Bischof den Zaren: „Verfolge nicht, damit du nicht verfolgt wirst. Deine Maßnahmen fallen auf dich zurück. Ich weiß, Boris, dass Gott vom Himmel aus deine Aktionen registriert“.

Was nun? Der Belev-Dannecker-Vertrag vom 22. Februar 1943 sah vor, dass „in den neuen bulgarischen Ländern Thrakien und Makedonien 20.000 Juden jeden Alters und Geschlechts für die Deportation bereitgestellt würden“, was spätestens bis zum 15. April 1943 erledigt sein sollte. Aufsicht und Vollzug oblag Belevs „Delegierten“ vor Ort: Zahari Velkov (Makedonien), Ivan Zahariev und Pejo Peev (Skopje), Kiril Stoimenov und Djordji Dshambazov (Bitola), Stojan Bahtschevandshiev (Štip). Alle „Delegierten“ wussten, dass es in den „neuen“ Gebieten bestenfalls 12.000 Juden gab, abzüglich ein größeres Kontingent „in Mischehen Lebender“, denn solche Juden waren „nicht zugelassen“ (ne se dopuskat). Die anderen sollten zuerst aus drei „Sammellagern“ in Skopje (5.000 Personen, 5 Güterzüge zum Abtransport), Štip und Bitola (3.000 Personen drei Züge) weiter geleitet werden. Tatsächlich wurde nur ein Sammellager eingerichtet, in dem Skopjer „Tabak-Monopol“.

Wie viele Juden aus Štip verschleppt wur­den, verrät eine Gedenktafel, die vor dem Stadtmuseum angebracht ist: „Denkmal für die jüdischen Opfer des faschistischen Terrors (561 Personen), die am 11. 03. 1943 aus Štip deportiert und vernichtet wurden in dem Todeslager Treblinka Polen“.

Dazu ist einiges zu sagen, etwa zu den Ortsangaben. Die Polen geraten in (berechtigten) Zorn, wenn Auschwitz, Treblinka, Sobibor und andere deutsche KZs als „polnische Lager“ bezeichnet werden. Das hat man in Štip nicht getan, aber auch nicht berücksichtigt, dass es 1943 kein „Polen“ gab, sondern nur ein deutsches „Generalgouvernement“. Das zweite Monitum betrifft die Zahl 561, die angeblich aus KZ-Akten stammt, also wohl zutreffen. Andere Quellen geben 551 Deportierte aus Štip an, aber das ist alles kaum nachzuprüfen, denn damals herrschte ein numerisches Chaos, in dem mancher den Überblick verlor. Im Mai 1946 veröffentlichte das „Zentrale Konsistorium der Juden in Bulgarien“ eine Expertise, laut welcher Bulgarien vor dem Krieg 47.000 Juden beherbergte, danach aber 49.815, was die Verfasser selber als „unwahrscheinlichen Fakt“ einstuften. Hinzu kam, dass zwischen September und Dezember 1944 rund 1.500 bulgarische Juden nach Palästina auswanderten, seit Januar 1945 weitere 1.000.

In Štip finden sich neben oben abgebildeter Tafel zwölf Tafeln mit jeweils 40 bis 45 Namen Deportierter. Es sind durchweg Namen sephardischer Juden, wobei das Gros aus wenigen Großfamilien zu entstammen scheint: Sion (187 Namen), Levi (124), Levy oder Lavy (39), Kapuano (48), Natan (39), Rubissa (27) und weitere 27 Namen mit einem bis sechs Angehörigen. Rein jüdisch waren die Vornamen, vor allem die männlichen (Haim, David, Issak, Samuel, Avram, Baruch, Mosche, Pinchas, Israel etc.) Auch weibliche Vornamen muten vertraut an (Rebeka, Ester, Julia, Sara etc.), daneben stehen fremde oder gar exotische (Storina., Mathilde, Palomba, Sinjora, Kerolina etc.) Die Kom­bination vielfach gleicher Nach- und bekannter Vornamen schafft Schwierigkeiten: Ich habe mich mindestens fünfmal verzählt und bin mir immer noch nicht sicher, ob meine Zählung die richtige ist. Ähnlich erging es den Bildhauern, die nicht selten einen „Natan“ oder „Koen“ dorthin stellten, wo er alphabetisch fehl war, da offenkundig nachträglich eingefügt.  

Tatsache bleibt, dass die beträchtlichen jüdischen Populationsverluste vor allem in den bulgarischen „neubefreiten Gebieten“ geschahen. Das konnte bei Kriegsende übersehen werden, da sich die Bulgaren bereits am 6. Oktober 1944 aus Thrakien zurückzogen und in Makedonien blieben – nach raschem Frontwechsel zur sowjetischen Seite als „Ver­bündete“ am Endkampf gegen Deutschland. Dafür brauchte Tito keine Unterstützung mehr, schon gar keine bulgarische, aber hinter den Bulgaren stand Stalin, mit dem Tito ohnehin eskalierende Probleme hatte.

Also mussten die verärgerten Makedonen hinnehmen, dass ihre gestrigen Unterdrücker als heutige Kampfgefährten firmierten, die die Juden in Makedonien und speziell in Štip drangsaliert hatten. Deren kleine Häuser verfielen zu baufälligen Hütten, ihren in der Os­ma­nenherrschaft privilegierten Handel konnten sie nicht fortführen. Um überleben zu kön­­nen, waren sie auf körperliche Arbeit oder Klein­handel angewiesen. Mit letzterem hatten sie viel Pech: Ihre Geschäfte blieben zwei Ta­ge in der Woche geschlossen, weil der Sonnabend jüdischer und der Sonntag christ­licher Feiertag waren. Das alles schmälerte früheren Wohlstand, aber es sollte noch weit schlimmer kommen.

Nach Kriegsende erinnerten sich viele noch an den 11. März 1944, als in Skopje, Bitola und Štip die Deportationen begannen. Ab zwei Uhr morgens riegelten Polizei und Armee die von Juden bewohnten Stadtteile ab, alle zehn Meter stand ein Bewaffneter. Jeder durfte nur 30 Kilogramm Gepäck mitnehmen, ihre verlassenen Wohnungen wurden versiegelt, die Schlüssel eingesammelt. Geld und Wertsachen durften die Juden vorerst behalten, „als Notbehelf“.  

Zum Bahnhof mussten die Juden zu Fuß marschieren, dabei argwöhnisch beobachtet von Stojan Bahtschevandshiev, dem regionalen „Delegierten“ des Belev-Kommissariats, der den Juden erklärte: „Es ist die Anordnung des Zaren, dass alle makedonischen Juden vertrieben werden und dass die entsprechenden Aktionen auch in anderen Städten Makedoniens stattfinden. Zu gewisser Zeit wird Ihnen mitgeteilt, wohin ihre Reise geht“. Daneben standen Polizeichef Ignat Mocev und der Verwaltungsleiter Ivan Dilov.

Die Reise ging zunächst in überfüllten Viehwaggons nach Skopje, von wo die Depor­tierten aus Štip am 25. März um 14 Uhr eintrafen. Die Weiterreise erfolgte am 31. März 1943 um 17.30 Uhr – direkt nach Malkinia, dem Grenzbahnhof zwischen Generalgou­vernement und Sowjetunion, in dessen Nähe sich das Vernichtungslager Treblinka befand. Dort verlieren sich die Spuren der Juden von Štip.  

Am Stadtrand von Štip liegt der ma­lerische Vorort Novo Selo, mit drei schönen Kirchen, dem Rekto­rat der Štiper Goce-Deltschev-Uni­versität und anderen Sehenswür­dig­keiten. Ein paar Kilometer wei­ter breitet sich der große Friedhof von Štip aus, dessen oberer Teil einmal der jüdische Friedhof war (Bild). Er soll schon vor 1500 be­standen haben, also vor der Ankunft der sephardischen Juden. Nach dem tragischen 11. März 1943 wur­den die Grabsteine weggeräumt und in dem benachbarten Dorf Keshovica zu einem Schwimmbad verbaut. 

Seit 2009 sind auf Initiative des Stadtmuseums Štip etwa 50 Stei­ne wieder an ihrem alten Platz, aber ohne die hebräi­schen Inschriften. Vor Jahrzehn­ten hat der Lehrer Menahem Mer­kalo Cion sie auf großen Kar­tons gezeichnet, von de­nen sie die Steinmetze kopierten. Ich musste mich sehr bemühen, um auf einigen von ihnen so etwas wie die Schatten eines Davidsterns und einiger Buchstaben zu erahnen.

Autor: Wolf Oschlies

Literatur

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Dauto­vić, Sava; Petranović, Branko: Jugoslovenska revolucija i SSSR 1941-1945 (Die jugoslawische Revolution und die UdSSR), Belgrad 1988;

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Artikel im Original (Erstellt: 14. Mai 2018):

https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-tragoedie-der-juden-von-stip-makedonien/