Der deutsche Reichskanzler Graf von Bülow und die makedonische Frage im September 1903

Der deutsche Reichskanzler Bernhard Graf von Bülow (1849-1929) konferierte in Wien über die Makedonienfrage

Während seines Besuches in Wien an 18./19. September 1903, auf dem er Kaiser Wilhelm II. begleitete, sprach der deutsche Reichskanzler Bernhard Graf von Bülow mit dem Außenminister Österreich-Ungarns, Agenor Maria Adam Graf Gołuchowski, über die Probleme auf dem Balkan. Er selbst zeichnete das Gespräch am 20. September auf, u.a. heißt es:

„Er, Graf Gołuchowski, halte an zwei Gesichtspunkten fest:

  1. Zu tun, was möglich sei, um den Ausbruch eines Konfliktes zwischen Bulgarien* und der Türkei zu hindern.
  2. Wenn dieser Konflikt trotzdem ausbrechen sollte, ihn zu lokalisieren.

Beiläufig bemerkte der Minister, daß er auf Autonomie für Mazedonien (Makedonien) nicht eingehen werde…Dagegen seien finanzielle und administrative Reformen in Makedonien im Rahmen der österreichisch-ungarischen Vorschläge unerläßlich…

Abb.: deutscher Reichskanzler Bernhard Graf von Bülow (1849-1929)

Mit großer Entschiedenheit sprach sich der Graf dahin aus, daß er sich nicht auf eine Teilung der Balkanhalbinsel zwischen Österreich-Ungarn und Rußland einlassen könne. Eine solche würde von vornherein Österreich-Ungarn in Nachteil versetzen und überdies zweifellos den Keim zu einem österreichisch-russischen Kriege in sich tragen. Er werde auch niemals die Bildung eines Groß-Serbiens oder Groß-Montenegros zulassen: ebenso könne keine Rede davon sein, daß Konstantinopel an Rußland falle. Von dem Augenblicke an, wo Rußland in Konstantinopel stünde oder zwischen Adria und Donau ein großer slawischer Staat sich bilde, sei Österreich nicht mehr zu regieren. Die zentrifugalen slawischen Elemente würden es auseinandersprengen. Bevor Österreich die eine oder andere dieser Eventualitäten zulasse, würde es lieber an das Schwert appellieren…

Graf Gołuchowski kam immer wieder darauf zurück, daß der Status quo auf der Balkanhalbinsel so lange als irgend möglich aufrechtzuerhalten sei…Sein Zukunftsideal ist offenbar, die türkische Herrschaft allmählich durch autonome Staatswesen zu ersetzen und ein möglichst großes Griechenland, ein großes Rumänien, ein großes Bulgarien, ein schwaches Serbien, ein kleines Montenegro und schließlich auch ein selbständiges Albanien zu schaffen.“

*Anmerkung: Anfang 1902 unterzeichnete Bulgarien eine Militärkonvention mit seinem Protektor Rußland, mit dem Ziel den russischen Einfluß auf dem Balkan zu erweitern, das aber von Österreich-Ungarn einzudämmen gar zu verhindern galt. Bulgarien vollzog aber im folgenden Jahrzehnt eine Wendung von einer pro-russischen Linie hin zu den Mittelmächten (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn). Gegen die Einmischung Bulgariens in makedonische Angelegenheiten protestierten zugleich Rußland und Österreich-Ungarn, Grund für die Intervention der Mächte ist die Angst vor einem Krieg auf dem Balkan, der sich an einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Bulgarien und der Türkei entzünden könnte.

Historischer Hintergrund

Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts war nur noch Makedonien türkische Provinz auf dem Balkan, und auf sie erhoben die makedonischen Nachbarländer ganz unverhüllte Gebietsansprüche. Agierend und reagierend waren auch die Großmächte Rußland und Österreich-Ungarn in dieses verwirrende Spiel einbezogen: 1878 mit russischer Hilfe von den Türken freigekommen, bewegte sich Bulgarien in den folgenden 25 Jahren außenpolitisch von Rußland fort und auf Österreich-Ungarn zu und wieder zu Rußland zurück. Entsprechend gegenläufig war der außenpolitische Kurs Serbiens, das 1881 mit der Doppelmonarchie einen geheimen Beistandspakt schloß. Es war die „makedonische Frage“, die Bulgarien und Serbien entzweite, und der makedonische „Ilinden-Aufstand“ vom 2. August 1903 (Ilinden bezieht sich auf den Tag des Propheten Elias), die kurz zuvor in Belgrad erfolgte Thronablösung der Dynastie Obrenovic und die endgültige Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn 1908, in deren „Windschatten“ Bulgarien seine endgültige Unabhängigkeit von der Türkei erlangte, hatte die Spannungen auf dem Balkan noch gesteigert. Makedonien war bei all dem mit einem unverbindlichen und folgenlosen Reformversprechen abgespeist worden, dem „Mürzsteg-Abkommen“ vom 2. Oktober 1903 zwischen Rußland und Österreich-Ungarn. Durch dieses sollte Makedonien unter eine Art internationale Zivil- und Militärkontrolle gestellt werden, deren Notwendigkeit das tragische Ende des „Ilinden-Aufstands“ gezeigt hatte: Übereilt und schlecht vorbereitet hatten die Makedonen gegen die Türken losgeschlagen, aber nach einigen Anfangserfolgen und der Ausrufung der kurzlebigen „Republik von Krusevo“ (die erste Republik auf dem Balkan wohlgemerkt) wurde die Erhebung im Blut erstickt. Die von den Großmächten versprochenen Reformen blieben schließlich aus.

Chronik-Rückblick: Kaiserliches Jagdgespräch über Krise in Makedonien und das Mürzsteger Programm

Am 3.10.1903 einigten sich in Mürzsteg, Zar Nikolaus II. von Rußland und Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn, über ein gemeinsames Vorgehen in der makedonischen Frage.

Die beiden Monarchen reisten am 1. Oktober zur Gemsjagd in die Alpen. Begleitet wurden sie nach Mürzsteg von ihren Außenministern Wladimir Nikolajewitsch Graf Lamsdorf aus Petersburg und Agenor Maria Adam Graf Gołuchowski aus Wien. Man führte Gespräche über die angespannte Lage auf dem Balkan und bereit über Maßnahmen gegen die wachsende Kriegsgefahr in dieser Region. Ursache dafür war der sich immer weiter ausbreitende Aufstand der Makedonen.

Die Unruhen in den zum Osmanischen Reich gehörenden makedonischen Gebieten begannen bereits 1902. Von jungen makedonischen Anarchisten geplant und ausgeführt, erschütterten mehrere Sprengstoffanschläge die makedonische Hafenstadt Selanik/Salonica (heute Thessaloniki) im April 1903, so daß die türkische Verwaltung das Standrecht verhängte. Ziel der revolutionären Bewegung ist die Befreiung des Landes von der osmanischen Herrschaft. Zu ihren bedeutenden Trägern gehörte die IMRO, die 1893 von jungen makedonischen Intellektuellen gegründete „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“. Unter der Führung von Damian Gruev und Goce Delcev strebte sie einen autonomen Staat an. Zu ihren Widersachern zählen allerdings nicht nur die türkischen Truppen, sondern auch aus den Nachbarstaaten entsandte Banden wie die griechische Paramiliz „Andarten“, serbische „Cetniks“ und probulgarische „Vrhovisten“, letztere entsandt vom „Obersten Komitee“ in Sofia: anfangs von makedonischen Emigranten gegründet fiehl diese unter Kontrolle bulgarischer Generäle, das gegen ein autonomes oder unabhängiges Makedonien kämpfte und einen Anschluß an Bulgarien anstrebte. Die sich immer stärker ausbreitenden Kämpfe wurden von allen Seiten mit unbarmherziger Gewalt geführt. Konstantinopel setzte immer mehr reguläre Truppen in Makedonien ein, so daß sich die 26 000 makedonischen Aufständischen schließlich 350 000 türkischen Soldaten gegenübersahen. Als gegen Ende des Jahres die Rebellion blutig niedergeschlagen wurde, zeigte sich die grausige Bilanz: Etwa 1000 Revolutionäre sind gefallen, 5000 Zivilisten wurden umgebracht, 200 Dörfer dem Erdboden gleichgemacht und 12 000 Häuser verwüstet.

An einer militärischen Auseinandersetzung mit der Folge von Veränderungen territorialer Verhältnisse waren die angrenzenden Staaten Griechenland, Bulgarien und Serbien zu diesem Zeitpunkt nicht interessiert, welche jedoch zunehmend aggressive nationalistische Ziele verfolgten.

Verhandlungsgespräche und Beschluß: Vor allem Rußland und Österreich-Ungarn wollten einen Konflikt zwischen dem Osmanischen Reich und den Balkanstaaten vermeiden, da ihre Einflußsphären davon direkt betroffen wären. Auf dem Jagdschloß erarbeitete man deshalb ein Programm für ein künftiges Vorgehen, die sogenannten Mürzsteger Punktationen. Darin verabredeten die beiden Mächte ein möglichst langes Hinausschieben von weiteren Gebietsveränderungen auf dem Balkan und beschloßen, scharfen Druck auf die Regierung des Osmanischen Reiches auszuüben, um Reformen und die Reorganisation der Gendarmerie unter europäischen Offizieren in Makedonien durchzusetzen. Weiter vorgesehen war Vertreter der christlichen Bevölkerung an Verwaltung, Gerichten und Polizei zu beteiligen und die Auflösung der „Baschi-Bosuks“, irreguläre Truppen des Osmanischen Reiches. Gemischte muslimisch-christliche Kommissionen sollten unter Beteiligung der russischen und österreichisch-ungarischen Konsuln Verbrechen während des Aufstandes und seiner Niederschlagung untersuchen. Die osmanische Regierung sollte die Rückkehr von Flüchtlingen auch finanziell unterstützen. Geplant war auch die Abschaffung der noch immer üblichen Abgabe des Zehnten an offizielle Vertreter der Religion. In verbesserten Lebensbedingungen und mehr Eigenständigkeit der nicht-türkischen und nichtislamischen Bevölkerung sahen sie die einzige Chance für das Ende des makedonischen Aufstands.

Ergebnis: Obwohl die osmanische Regierung bereits im Februar die Annahme eines entsprechenden russisch-österreichischen Reformprojekts (Wiener Programm) verkündet hatte, geschah seine Realisierung nur schleppend. Die Reformen litten von Anfang an unter den unzureichenden finanziellen Mitteln zu ihrer Umsetzung. Neben den osmanischen Behörden waren es auch die Rivalitäten zwischen verschiedenen christlichen Bevölkerungsgruppen und die Propaganda aus den Nachbarstaaten (Kirchen- und Schulkampf), auch die weiterhin aktiven Untergrundkämpfer und Banden sowie die schlechte wirtschaftliche Lage in dieser Region, die eine Befriedung erschwerten. Im Mai 1909 schloß die osmanische Regierung die Internationale Finanz-Kontroll-Kommission für Makedonien. Damit war das Mürzsteger Programm praktisch beendet.

Die Balkanhalbinsel 1903 – Darstellung der Landgewinne Österreich-Ungarns 1878-1885

Die Illustrierte Zeitung „The illustrated London News“ nahm die wachsenden Spannungen zwischen Osmanen und Angehörigen anderer Völker und Nationen auf dem europäischen Territorium des Osmanischen Reiches zum Anlaß, ihren Lesern die verschiedenen Truppeneinheiten der Armee des Sultans vorzustellen: gezeigte Militärs (unten links) wurden gegen aufständische Makedonen eingesetzt.

Abbildungen (oben rechts) aus der „The illustrated London News“ von den Armeen einzelner Balkanländer: Serbien (o. l. u. r.), Montenegro (0. M.), Rumänien (M.) und Bulgarien (u.). Alle diese Staaten waren interessiert an einer Ausdehnung ihres Territoriums, die mit einer Vertreibung der Türken aus Südosteuropa und der Aufteilung der Gebiete verbunden war. Sie „unterstützten“ deshalb den Freiheitskampf der Makedonen und heizten somit den Konflikt weiter an, schreckten jedoch vor einem Militäreinsatz eigener Truppen zurück.

„Der Aufstand in Makedonien – eine Rast der Aufständischen“, Titelbild der Pariser Tageszeitung „L’Illustration“ vom August 1903 zeigt makedonische Freiheitskämpfer

Die Balkankriege und deren „Lösung der makedonischen Frage“

Das Vordringen Österreich-Ungarns auf dem Balkan hatte Rußland aufgeschreckt, und nach langwierigen Verhandlungen brachte es 1912 eine Allianz zwischen Bulgarien, Serbien, Griechenland und Montenegro zusammen: eine Geheimklausel zu dem Vertrag sah eine Aufteilung Makedoniens vor. Davon wußten die Makedonen nichts, und so beteiligten sich anfänglich makedonische Freiwillige an den Balkankriegen 1912/13, in denen die Koalition der Balkanstaaten das Osmanische Reich fast gänzlich aus Europa herausdrängte. Dem Sieg folgte die abgesprochene Teilung Makedoniens. Über die Verteilung der Beute entstand 1913 gleich ein 2. Balkankrieg: das makedonische Gebiet wurde von Griechenland, Bulgarien und Serbien besetzt und zwischen diesen Staaten aufgeteilt.

Bereits 1913/14 kam es zu massiven Zwangsumsiedlungen von Bevölkerungsgruppen, um ethnisch homogenere Staaten zu schaffen: Türken, muslimische und christliche Makedonen und andere Volksgruppen mussten ihre Heimat verlassen und wurden andernorts neu angesiedelt. Die Position der religiösen oder ethnischen Minderheiten in den „Nationalstaaten“ verschlechterte sich weiter. Die Teilung Makedoniens wurde dann im anschließenden Ersten Weltkrieg fest zementiert und von den Siegermächten sanktioniert: War Makedonien früher zwar unfrei, aber als ethnisches und wirtschaftliches Ganzes noch intakt gewesen, so wurden die Makedonen nun in vier Staaten der Entnationalisierung, dem ökonomischen Niedergang, dem Verbot jeglichen sprachlichen Eigenlebens und einer aggressiven Assimilierungspolitik der neuen Besatzungsmächten ausgesetzt.

Quelle/Literatur:

  • Sammlung Chronik-Jahresbücher 1903, Landes- und Zentralbibliothek Berlin
  • Die Mürzsteger Beschlüsse von 1903: Weltpolitik im Mürzer Oberland, Institut für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie Wien, 2015
  • Diplomatische Geheimakten aus russischen, montenegrinischen und sonstigen Archiven, Band 2, 1929, Landesbibliothek Oberösterreich
  • Der mazedonische Knoten: Die Identität der Mazedonier dargestellt am Beispiel des Balkanbundes 1878-1914- Eine Dokumentation zur Vorgeschichte der Republik Mazedonien nach Aktenlage des Auswärtigen Amtes, 2004
  • Slavistische Beiträge, Band 193, München, 1986